Im Monat Januar waren etliche Ausblicke auf das Jahr 2021 zu lesen. Pascal Hügli legt einen drauf und wagt den Blick in die etwas fernere Zukunft: So wird die Welt von 2030 aussehen.
Wir schreiben den 1. Januar 2030. Soeben ist es zu Ende gegangen, das Jahrzehnt, das ganz im Zeichen der Pandemie gestanden hat. Was 2020 mit einem scheinbar harmlosen Virus begonnen hatte, entwickelte sich schnell zu einem historischen Wendepunkt. Noch bevor das Schreckensjahr abgeschlossen war, mutierte das Coronavirus und führte zu weitere Lockdowns bis weit ins Jahr 2021 hinein.
Die “Weltgesellschaft” schaffte es schliesslich, das Virus zu bändigen und die Dinge kehrten wieder zur Normalität zurück – einer neuen Normalität versteht sich. Das arg gebeutelte Wirtschafts- und Sozialleben blühte wieder auf. Nominalfetischisten aller Couleur feierten die beeindruckenden Wachstumszahlen und vergassen dabei, dass der Wiederaufschwung weniger Wirtschaftswunder war, sondern mehr der Wiederbelebung eines klinisch Toten entsprach.
Die zu einem grossen Teil unwiderrufliche Zerstörung von geistigem und kulturellem Kapital prägte die Folgejahre noch stark. Immer unvorstellbarere Auswüchse populistischer Gewalt traten zutage, auf die immer stärker gelähmte Institutionen mit politischer Ohnmacht reagierten. Mit dem Endes des Jahrzehnts sind die politischen Strukturen teils kaum mehr wiederzuerkennen. Zwar sind die westlichen Länder formal noch immer Demokratien, doch ist ein beachtlicher Teil dessen Bürger längst zu politischem Nihilismus übergegangen und hat sich aus dem öffentlichen Diskurs verabschiedet.
Eine Zukunft, die zu erahnen war
Was von den einen als verlorenes Jahrzehnt gedeutet wird, war für andere eine Dekade beispielloser Exponentialität. Trends wie Digitalisierung, Robotics, Quantum Computing, Biotechnologie, HealthTech und weiteres haben sich in exponentiell weiterentwickelt. Die grösste Exponentialität von allen Entwicklung allerdings zeigte das globale Geldmengenwachstum.
Um den Dollar-Standard aufrechtzuerhalten, hat die US-Notenbank ihre Bilanz nicht etwa auf 20 Billionen US-Dollar anschwellen lassen, was mehr als zwei Drittel des gesamten US-amerikanischen Bruttoinlandsprodukts entsprechen würde. Nein, die USA hat endlich Farbe bekannt und die politische Vereinigung von Fiskal- und Geldpolitik gemäss den Thesen der Modern Monetary Theory (MMT) umgesetzt. Das US Treasury hat sich das Federal Reserve System und damit die Zentralbank einverleibt.
Vorbei sind die Zeiten, in denen das US-Finanzministerium über den Finanzmarkt Staatsanleihen ausgeben musste, um sich zu finanzieren. Mit der Umsetzung von MMT schafft sich der US-Staat das nötige Geld von nun an selbst und verteilt dies nach politischem Verteilungsschlüssel. Die Verpolitisierung der Finanzämter ist somit perfekt und Steuern gelten nur noch der Steuerung der Wirtschaft zur Inflationskontrolle. Beides hat den Lobbyismus in den USA zur unverkennbaren Kernkompetenz von Unternehmen und Konzerne werden lassen.
Auch auf dem alten Kontinent ist es zu tektonischen Veränderungen gekommen. Seit einigen Jahren schon hat sich die EU in die VSNE umgetauft: die Vereinigte Schuldennation Europas. Die Schuldenpolitik der europäischen Ländern wurde harmonisiert und die sogenannten Eurobonds werden fast ausschliesslich von der Europäische Zentralbank gekauft. Um den Euro vor der immer stärker drohenden Hyperinflation zu bewahren, unterstützt man die Geldpolitik von regulatorischer Seite. Mittels zahlreicher exotischer Kapitalverkehrskontrollen wird versucht, die Flucht aus der Fiatwährung zu unterbinden. Dass man in der EU dem Beispiel der USA hin zu MMT nicht gefolgt ist, liegt vor allem darin begründet, dass man – zum Erstaunen vieler – noch immer über die am besten regierbaren und zuverlässigsten Steuerzahler der Welt verfügt, allen voran den Deutschen.
Der VSNE noch immer nicht einverleibt – ebenfalls zum Erstaunen vieler – ist die Schweiz. In der helvetischen Alpenrepublik ist der Lebensstandard nach wie vor etwas höher als im übrigen Europa. Weil man es sich eben leisten könne, so das finanzpolitische Verständnis in der Schweiz, hat sich hierzulande mittlerweile das Grundeinkommen durchgesetzt. Doch gibt es Befürchtungen, dass die Schweiz für die VSNE bloss eine Art Freiluft-Protektor mit Ablaufdatum ist, so wie früher Hongkong gegenüber war.
Ein Blick nach Asien
Apropos Asien: In China hat die Entwicklung rund um das berühmt-berüchtigte Sozialkredit-System und mit ihm die Totalkontrolle nach westlichem Verständnis die schlimmsten Alpträume wahr werden lassen. Wirtschaftlich ist China zur stärksten Volkswirtschaft aufgestiegen. Ein paar wenige Chinesen gehören inzwischen zu den reichsten Menschen der Welt. Während Ihnen aufgrund von Land Grabbing vor allem in Afrika grosse Territorien gehören, sind heutzutage auch ganze Stadtteile Europas (zum Beispiel in Barcelona und selbst in Wien) in chinesischer Hand. Im Stile musealer Freizeitparks werden diese überwiegend für asiatische Touristen bewirtschaftet.
Obschon das Land der Mitte seinen Einfluss über die Welt ausweiten konnte, hat man den Rest der Welt nicht komplett abgehängt. Denn obschon die Chinesen aufgrund ihres sozialen Kulturverständnisses die totale Kontrolle viel stärker goutieren als sonstwo, zeigt letztere sowie das in China genauso expansive Kreditgeldwachstum einen stark abnehmenden Grenznutzen und geht an die Substanz der Menschen.
Am eindrücklichsten ist dieser “Menschenverschleiss” in Japan. Kämpfte das Land Ende der 2010er-Jahre noch mit dem Problem einer Überarbeitung der eigenen Bevölkerung, ist dieses Phänomen Karōshi, wie es auch genannt wurde, heute verschwunden. Kein Land ist früher in die Nullzinsfalle getappt und ist daher schon so lange von deren gesellschaftlichen Negativfolgen betroffen.
Japan gleicht heute einem Puppenhaus. Ein beachtlicher Anteil der Menschen lebt als parasitäre Singles, sogenannte Hikikomori, einsam und zurückgezogen in ihren eigenen vier Wänden. Zwischenmenschliche Beziehungen, allen voran Liebesbeziehung haben sich viele Japaner abgewöhnt. Sehnen sie sich in einem Augenblick ihres sonst so tristen Lebens nach etwas Nähe, lässt sich ein Instant-Partner per Smartphone fürs Händchenhalten oder mehr bestellen. Diese “Love-on-Demand”-Industrie gehört gegenwärtig zu den florierendsten Branchen Japans schlechthin. Von einer der innovativsten Nationen dieser Erde hat sich Nippon zu einem der hoffnungslosesten Fälle entwickelt.
Arbeit: ein Relikt der Vergangenheit
Insbesondere im Westen fällt auf: Kaum gibt es noch Menschen, die in der Privatwirtschaft arbeiten. Wann dann arbeiten sie bei Grosskonzernen wie Pharmafirmen, Finanzinstitute oder Techgiganten und funktionieren wie das kleine Zahnrad im Grossgetriebe streng nach Vorschrift und Anleitung. Die überwiegende Mehrheit der Bürger sind unterdessen Staatsangestellte und ein beachtlicher Anteil Staatsunabhängige, wovon letztere das Arbeiten sowie jegliche Perspektive längst aufgegeben haben und am Tropf des Staates hängend gerade so über die Runden kommen.
Ihnen gegenüber steht eine Gruppe von Menschen, welche das endlose Gelddrucken schon anfangs des letzten Jahrhunderts antizipiert hat und zu ihrem Vorteil auszunutzen wusste. Durch gezieltes Investieren in spezifische Assets haben diese von einer bisher nicht gekannten Vermögenspreisinflation profitieren können.
Viele dieser Vermögenswerte sind digital und doch absolut knapp. So gibt es unterdessen abstrakte Dinge und Werte, die nur mittels Technologien wie Augmented oder Virtual Reality ersichtlich und erreichbar sind. Nicht selten haben diese Besitzansprüche mehr Wert als ihre traditionellen physischen Pendants. So wird manch eine digitale Konstruktion einer Immobilie im Cyberspace höher gehandelt als Parzellen in der realen Welt, dem sogenannten Meatspace.
Die unterschiedlichen digitalen Parallelwelten stehen der echten Welt in nichts mehr nach. Dabei wimmeln sie nur so von professionellen Shitpostern, die auf sozialen Medien vor allem im Infotainment, vereinzelt auch im Edutainment, ihren Sinn finden, indem sie der Surrealität der Geschehnisse dieses eben zu Ende gegangenen Jahrzehnts frönen und dabei vor allem von ihren digitalen Schätzen und hohen Kursgewinnen leben.
Nicht wenige von ihnen sind sogenannte Netizens (Bürger des Internets) und leben hauptsächlich in einer neuen Welt, der Bitcoin-Welt. Als alternatives Finanzsystem durchdringt dieses die verschiedenen virtuellen Parallelwelten und ist mittlerweile hunderte von Billionen US-Dollar schwer. Eine ausgereifte Welt der dezentralisierten Finanzen ermöglicht es, ein jedes aus der traditionellen Welt bekanntes Finanzgeschäft vollständig über öffentliche Blockchains abzubilden und zu tätigen. Während die noch in der traditionellen Welt verhafteten Menschen ihren Lohn in digitalem Zentralbankengeld denominiert erhalten, gibt es eine immer wachsende Anzahl Menschen, die unterdessen ein “crypto-only” Lebensstil führt.
In der Bedeutungslosigkeit versunken
Denn Fiatwährungen spielen in der neuen Welt nur noch eine untergeordnete Rolle. Kryptoassets wie Bitcoin haben eine derart grosse Markttiefe erreicht, dass auf ihnen basierende Stablecoins preisstabiles Wirtschaften erlauben. Bitcoin lassen sich als sogenanntes “High-powered Collateral” zur Besicherung von Krediten hingeben und gelten als das neue Reserveasset schlechthin.
Auch Google und Konsorten profitieren von diesen dezentralen Systemen. Die Techgiganten sind quasi zu eigenen digitalen Nationen aufgestiegen. Deren Aktien sind längst tokenisiert und als Finanzinfrastruktur nutzen sie öffentliche Blockchains als globale Settlement-Netzwerke, über die Volumina in Trillion abgewickelt werden. Gleichzeitig bietet das Konzept der “Self Sovereign Identities” erste von traditionellen Staaten unabhängige Identifikationsmöglichkeiten, was die neuen digitalen Nationen gegenüber der traditionellen Welt stärkt.
Die technologische Innovation, die hauptsächlich in dieser neuen Welt zuhause ist, hat es zudem möglich gemacht, dass man instantan überall mit Aktienanteilen bezahlen kann. Das erlaubt es einem, zu jeder Zeit in Vermögenswerten investiert zu sein. Bei einem Online-Einkauf von Lebensmitteln zum Beispiel werden für die Bezahlung jene tokenisierten Aktienanteile verkauft, die gerade im Plus sind. Mit dem monatlichen Lohn, sofern er nicht direkt in Vermögenswerten ausbezahlt wird, werden jeweils diejenigen Anteilscheine erworben werden, die im Preis gerade lukrativ erscheinen. Ein automatisches, kontinuierliches Rebalancing ist somit garantiert.
Selbstsouveränität auf höchster Stufe
Dass die Techriesen, die jahrelang für die verlängerten Arme des US-Staates gehalten wurden, letzterem gewissermassen den Rücken zugedreht haben, wurde als Kampfansage interpretiert. Vonseiten des Staates wurden die Bestrebungen zu deren Zerschlagung deshalb über die vergangenen Jahre intensiviert.
Als Konter auf diese Absichten hat Google ein Exempel statuiert und erst kürzlich einen Grossteil seiner Geldreserven in Bitcoin angelegt. Auf diese Weise hat die Firma den Grundstein geschaffen, um mittel- bis langfristig auf einen Bitcoin-Standard überzugehen und sich von Fiat endgültig loszulösen. Trotz etlicher Drohungen und tatsächlicher Versuche ist es US-Staatsbeamten bis heute nicht gelungen, die in Bitcoin angelegten Geldern und damit die Mehrheit der Finanzkraft Googles willkürlich zu beschlagnahmen.
So scheint das Beispiel bereits die Runde zu machen, gibt es doch schon die ersten Gerüchte, wonach sich andere Unternehmen diesen Grad der monetären Souveränität im Jahr 2031 nun ebenfalls erkaufen möchten. Denn zensurresistentes digitales Gold bietet Akteuren ein noch nie dagewesenes Mass an Verhandlungsmacht und macht diese gegenüber ihren Staaten zu multinationalen Souveränen auf Augenhöhe. Die Voraussetzungen für ein weiteres spannendes Jahrzehnt sind somit gelegt. Wir freuen uns heute schon, anfangs 2040 auf das vergangene Jahrzehnt zurückzublicken.