Die grösste DeFi-Kreditplattform steht vor einer wegweisenden Entscheidung: Die Aave DAO und Aave Labs streiten öffentlich um Markenrechte, Frontend-Einnahmen und die grundsätzliche Frage, wem das Protokoll gehört.
Der Konflikt verdeutlicht eine zentrale Herausforderung für dezentrale Finanzprotokolle – die strukturelle Divergenz zwischen Equity-Value und Token-Value-Accrual. Der AAVE-Token verlor seit Beginn der Auseinandersetzung 18 Prozent an Wert. Der Konflikt begann am 4. Dezember 2025, als Aave Labs den Swap-Provider auf dem Frontend von ParaSwap (heute Velora) auf CoW Swap umstellte. Am 12. Dezember deckte Marc Zeller von der Aave Chan Initiative auf, dass die Swap-Gebühren nicht in die DAO-Treasury flossen. Stattdessen leitet Aave Labs die Einnahmen – geschätzt auf über zehn Millionen Dollar jährlich – in eine eigene Wallet um. Zeller bezeichnete das Vorgehen als "verdeckte Privatisierung" von Protokolleinnahmen.
Protokoll versus Produkt: Die zentrale Differenz
Aave Labs verteidigt die Praxis mit einer klaren Unterscheidung: Das Protokoll gehört der DAO, das Frontend-Interface jedoch ist ein eigenständiges Produkt. Gründer Stani Kulechov argumentiert, Aave Labs finanziere, entwickle und betreibe das Interface auf aave.com seit über acht Jahren unabhängig vom Smart-Contract-Protokoll. Die Lizenzierung reflektiere diese Trennung eindeutig.
Kulechov betont, dass Gebühren aus dem früheren Swap-Provider Velora – etwa 1.1 Millionen Dollar im Jahr 2025 – lediglich aus "regulatorischer Unsicherheit" an die DAO gespendet wurden, nicht aus einer rechtlichen Verpflichtung heraus. Die Behauptung, Aave Labs schulde der DAO eine treuhänderische Pflicht, bezeichnet er als "Unsinn". Die CoW-Swap-Adapter habe das Unternehmen eigenständig entwickelt und finanziert, um Nutzern bessere Preise und MEV-Schutz zu bieten.
Die DAO-Vertreter sehen das grundlegend anders. Delegate Ezr3al wies nach, dass die CoW-Swap-Integration mindestens zehn Millionen Dollar jährlich generiert – ein Vielfaches der früheren Velora-Einnahmen von 1.1 Millionen Dollar in 2025. Zusätzlich verliert die DAO Einnahmen aus Flash-Loan-Gebühren: CoW-Swap-Solver nutzen Balancers gebührenfreie Flash-Loans statt Aaves kostenpflichtige Variante. Die Aave Chan Initiative charakterisiert die Situation als "verdeckte Privatisierung von ungefähr zehn Prozent des potenziellen DAO-Revenues unter Nutzung von Markenrechten, die von der DAO finanziert wurden".
Abstimmung ohne Konsens eskaliert den Streit
Am 23. Dezember eröffnete Aave Labs eine Snapshot-Abstimmung über einen Vorschlag, der AAVE-Token-Inhabern die Kontrolle über Markenassets übertragen soll. Der Vorschlag verlangt die Übergabe von Domains wie aave.com, Social-Media-Accounts, GitHub-Organisationen und Namensrechten an eine DAO-kontrollierte Rechtsstruktur mit "starken Anti-Capture-Schutzmechanismen".
Die Eskalation zur formalen Abstimmung erfolgte jedoch ohne Zustimmung des Autors. Ernesto Boado, ehemaliger CTO von Aave Labs und aktueller Co-Founder von BGD Labs, erklärte, Aave Labs habe seinen Vorschlag "einseitig und überstürzt zur Abstimmung eingereicht, mit meinem Namen darauf, ohne mich überhaupt zu informieren". Er hätte die vorgelegte Version nicht genehmigt, während die Community-Diskussion noch lief. Boado bezeichnete das Vorgehen als "schändlich" und forderte Token-Inhaber auf, sich der Abstimmung zu enthalten.
Marc Zeller charakterisierte die Aktion als "feindliche Übernahme durch Labs". Was als Bemühung um Klarheit und eine fairere Beziehung zwischen Token-Inhabern und Stewards begonnen habe, werde nun zum Machtkampf. Zudem falle die Abstimmung bewusst in die Weihnachtszeit – ein Zeitpunkt, der das Verfahren sabotieren solle. Die Abstimmung endet am 26. Dezember.
Protokoll- und Unternehmenswert versus Token-Wertakkumulation
Der Aave-Konflikt exemplifiziert eine grundlegende Spannung in DeFi-Governance-Strukturen: Die Divergenz zwischen Protokollwert und Token-Wertakkumulation. Aave Labs operiert faktisch wie ein traditionelles Technologieunternehmen – es entwickelt Software, betreibt Infrastruktur und monetarisiert Frontend-Services. Der wirtschaftliche Wert dieser Aktivitäten fliesst jedoch nicht automatisch zu den AAVE-Token-Inhabern. Diese Struktur entspricht klassischen Equity-Modellen: Shareholder profitieren von Unternehmenswert durch Dividenden oder Kursgewinne, haben jedoch keine direkte Kontrolle über operative Geschäftsentscheidungen. Aave Labs argumentiert, genau diese Autonomie sei notwendig, um Innovation zu finanzieren und das Produkt weiterzuentwickeln.
Token-Inhaber hingegen erwarten, dass Wert, der durch das Aave-Ökosystem generiert wird, auch zu ihnen zurückfliesst – entweder durch direkte Gebührenverteilung, Buyback-Programme oder andere Mechanismen der Token Value Accrual. Das Aave-Protokoll selbst generiert beträchtliche Einnahmen: Im vierten Quartal 2025 erreichten die Einnahmen ein Rekordhoch von 22.56 Millionen Dollar. Die DAO genehmigte kürzlich ein permanentes Buyback-Programm über 50 Millionen Dollar jährlich, finanziert aus Protokolleinnahmen von rund 169 Millionen Dollar pro Jahr.
Dennoch profitieren Token-Inhaber nicht direkt von Frontend-Gebühren, die Aave Labs über das Interface generiert. Die Kontrolle über Markenassets, Domains und Social-Media-Kanäle liegt bei Aave Labs – nicht bei der DAO. Diese Diskrepanz zwischen On-chain-Governance des Protokolls und Off-chain-Kontrolle über Marke und Interface bildet den Kern des Konflikts.
Marktreaktion und institutionelle Konsequenzen
Der AAVE-Token verlor seit dem 16. Dezember 18 Prozent an Wert und entwickelte sich damit zum schwächsten Performer unter den Top-100-Kryptowährungen. Ein Grossinvestor verkaufte 230'000 AAVE-Token im Wert von 38 Millionen Dollar, was einen abrupten Einbruch um zehn Prozent binnen eines Tages auslöste. Kulechov reagierte mit einem Signal der Überzeugung: Er akkumulierte über sieben Tage insgesamt 84'033 AAVE-Token im Wert von 12.6 Millionen Dollar am offenen Markt – bei einem Durchschnittspreis von 176 Dollar pro Token.
Dennoch bleibt das Marktvertrauen gedämpft. Polymarket-Wetten zeigen lediglich eine 25-prozentige Wahrscheinlichkeit für die Annahme des Vorschlags – ein Rückgang um 26 Prozentpunkte seit Wochenbeginn. Gleichzeitig verzeichnet das Protokoll selbst weiterhin starke Kapitalzuflüsse: Der Total Value Locked (TVL) stieg seit dem 18. Dezember um 1.42 Milliarden Dollar auf über 34 Milliarden Dollar. Aave kontrolliert damit rund 60 Prozent des DeFi-Lending-Marktes.
Diese Diskrepanz zwischen Token-Performance und Protokoll-Nutzung unterstreicht das zentrale Problem: Starke Fundamentaldaten des Protokolls übersetzen sich nicht automatisch in Token-Wert, wenn die Governance-Struktur keine klaren Mechanismen zur Value Accrual bietet.
Wegweisender Präzedenzfall für DeFi-Governance
Der Ausgang der Abstimmung wird weitreichende Implikationen für das gesamte DeFi-Ökosystem haben. Sollte die DAO die Kontrolle über Markenassets erlangen, etabliert dies einen Präzedenzfall: Token-Governance erstreckt sich nicht nur auf Smart Contracts, sondern auch auf Off-chain-Assets wie Domains, Markenrechte und Social-Media-Präsenzen. Eine Ablehnung des Vorschlags hingegen zementiert das Modell der funktionalen Trennung: DAOs kontrollieren Protokolle, während Entwicklungsteams eigenständige Produkte betreiben und monetarisieren. Dieses Modell erlaubt schnellere Innovation und klare Verantwortlichkeiten, schafft jedoch strukturelle Interessenskonflikte zwischen Equity-Inhabern (Labs) und Token-Inhabern (DAO).
Die Situation wirft grundlegende Fragen auf: Können dezentrale Organisationen effektiv kommerzielle Assets kontrollieren? Welche rechtlichen Strukturen sind erforderlich, um Token-Inhaber vor "Capture" durch einzelne Akteure zu schützen? Wie lassen sich Anreize zwischen Entwicklern und Community langfristig alignieren?
Parallel zur Governance-Krise verkündete die US-Börsenaufsicht SEC das Ende ihrer vierjährigen Untersuchung gegen Aave – ohne Enforcement-Massnahmen. Diese regulatorische Klarheit bietet theoretisch Raum für konstruktive Lösungen. Ob die zerstrittenen Parteien diesen Spielraum nutzen oder der Konflikt in einem Bruch endet, wird sich zeigen. Das Ergebnis dürfte die Entwicklung von DeFi-Governance-Modellen für Jahre prägen.







