Das Krypto-Phänomen ist eine globale Erscheinung. Öffentliche Blockchain-Netzwerke wie Bitcoin oder Ethereum werden weder von einem Staat noch einem Unternehmen kontrolliert. Vielmehr verbinden sie Menschen aus den unterschiedlichsten Kontexten über nationale Grenzen hinweg.
Doch aller Dezentralität zum Trotz braucht diese neue Welt, in der das Primat des Digitalen gilt, Berührungspunkte mit der physischen Welt. Oder anders gesagt: Selbst die Blockchain benötigt ein Zuhause. Hand geboten hat der ehemalige Bundesrat Johann Schneider-Ammann, als er Ende 2017 die «Krypto-Nation Schweiz» verkündete. Industrie und Regierung hielt er dazu an, das Land zu einem der weltweit wichtigsten Krypto-Standorte zu formen.
Das Ausrufen der Krypto-Nation von höchster Stelle gilt unter Visionären und Blockchain-Enthusiasten als kluger Schachzug. Und als einer mit Wirkung: Kein Jahr später verfügt die Schweiz über eine breite Palette an Initiativen, die Krypto-Themen noch bekannter machen sollen. Doch der Politik, deren Relevanz bei den immer dringlicher werdenden regulatorischen Fragen unbestritten ist, würde eine gesunde Portion Demut gut anstehen. Denn letztlich ist sie gerade dabei, Lorbeeren zu ernten, die sie grösstenteils nicht selbst angepflanzt hat.
Von unten, nicht von oben
Dass die Schweiz heute über eine ansehnliche Krypto-Szene verfügt, ist vor allem dem grossen Engagement einiger Privatpersonen zu verdanken. Zu Beginn waren es ein paar Computerfreaks und Anarcholibertäre, die sich aus technischen oder philosophischen Gründen für dieses neue Phänomen interessierten. In den Anfangszeiten war es gleichbedeutend mit Bitcoin – andere Kryptowährungen gab es nicht. Erst etwa fünf Jahre nach der Schaffung Bitcoins kamen erste alternative Projekte auf. Es wundert daher auch nicht, dass das erste hiesige Krypto-Start-up Bitcoin Suisse AG getauft wurde, der erste Krypto- und zugleich Fintech-Verein Bitcoin Association Switzerland. Ersteres wurde 2013 von Niklas Nikolajsen, einem gebürtigen Dänen, gegründet, letzterer hat der Ökonom und Informatiker Luzius Meisser ins Leben gerufen. Zusammen mit Alexis Roussel von Bity, wie die Bitcoin Suisse AG ebenfalls ein Krypto-Finanzdienstleister, leistete man Pionierarbeit. Die Bitcoin Suisse AG beschäftigt heute 65 Mitarbeiter und hat auch schon einige Schwergewichte aus der traditionellen Bankenwelt abwerben können.
Ein wichtiger Meilenstein in der Entwicklung der Schweizer Krypto-Szene war der Entscheid der Ethereum Foundation, sich in Zug niederzulassen. In diesem Zusammenhang ist insbesondere die Vermittlungsarbeit des Beratungsunternehmens MME unter der Führung von Luka Müller zu erwähnen. Ethereum hatte eine starke Sogwirkung: Immer mehr kluge Köpfe suchten die Nähe zur Ethereum-Community und nutzten die Ethereum-Blockchain als Plattform. Gleichzeitig profitierten sie von Netzwerken, die in Zug und anderen Kantonen entstanden.
Gesprächsbereite Dienstleister
Dass sich Ethereum für die Schweiz und nicht Singapur entschieden hatte, wurde damit erklärt, dass die Schweiz mit ihrer föderalistischen Struktur die der Krypto-Bewegung zugrundeliegende Idee der Dezentralität am besten spiegelt. Die Wege zu den Behörden sind hier kürzer als in einem zentralistisch geführten Land – und die Ämter lassen auch noch mit sich reden. Bei Krypto-Enthusiasten aus aller Welt gelten die kantonalen Behörden deshalb als kooperative Dienstleister, Start-ups sind Partner, nicht Bittsteller.
Das flexible Schweizer Rechtssystem erlaubt es, bestehende, abstrakt formulierte Gesetze mit wenig Aufwand auf die neuen Herausforderungen anzuwenden. Steuer- und andere finanzrechtliche Fragen konnten in der Schweiz schneller und innovationsfördernder beantwortet werden als etwa in der EU. Eine signifikante Verbesserung brachte aus Sicht vieler Krypto-Befürworter die Einführung des Finanzmarktinfrastrukturgesetzes im Jahr 2016, mit dem die Schweizer Rechtslage derjenigen der Europäischen Union angeglichen wurde. Nichtsdestotrotz, so der Tenor in der Community, würden der Schweizer Gesetzgeber und der Regulator Finma nach wie vor viel Geschick im Umgang mit der neuen Technologie und ihren Anwendungen beweisen.
Gekommen, um zu bleiben
Spätestens seit Ende 2017 sind Bitcoin und andere Kryptowährungen weltbekannt. Dass sie bald wieder verschwinden, ist kaum vorstellbar – auch in der Schweiz nicht. Das sorgt für so manchen Karrierewechsel: Prominente Banker kehren der traditionellen Finanzwelt vermehrt den Rücken, um für ein Blockchain-Start-up zu arbeiten oder selbst eins zu gründen. Arthur Vayloyan, ehemals Banker bei der Credit Suisse und zuletzt bei der Falcon Private Bank, stiess im November 2017 als neuer CEO zur Bitcoin Suisse AG. Mit Andreas Amschwand hat die Julius-Bär-Gruppe eben erst einen langjährigen Verwaltungsrat an die neu gegründete Krypto-Bank Seba verloren. Und auch der ehemalige Chef der Schweizer Börse, Christian Katz, flirtet mit der Krypto-Welt. Er ist Verwaltungsratspräsident der neuen Swiss Crypto Exchange (SCX).
Im September dieses Jahres zählte das Krypto-Ökosystem in der Schweiz und Liechtenstein bereits über 600 Unternehmen mit insgesamt 3000 Arbeitsstellen. Fünf dieser Krypto-Projekte, die aus der Schweiz stammen oder noch immer hier verwurzelt sind, zählen sogar zu den Unicorns: Bitmain, Cardano, Dfinity, Ethereum und Xapo werden mit einer Milliarde Dollar oder mehr bewertet. Lange Zeit schien Zug – mittlerweile weltweit als Crypto Valley bekannt – das Herzstück der Schweizer Krypto-Szene zu sein. Insbesondere die 2017 eröffneten Crypto Valley Labs vermochten die internationale Attraktivität weiter zu steigern. Und eben erst wurde vom in Zug ansässigen Blockchain-Beratungsunternehmen Lakeside Partners ein Inkubator namens Crypto Valley Venture Capital (CV VC) gegründet. Über die nächsten fünf Jahre sollen über dieses Vehikel zwischen 50 und 100 Millionen Dollar in aufstrebende Krypto-Start-ups gesteckt werden.
Doch damit nicht genug. Im April dieses Jahres hat mit dem Trust Square der erste Zürcher Blockchain-Hub seine Büros an der Bahnhofstrasse bezogen. Gleich neben der Schweizerischen Nationalbank und unweit des Paradeplatzes sind hier rund 40 Blockchain-Start-ups einquartiert – vom Ein-Mann-Projekt bis hin zum Jungunternehmen mit über 50 Mitarbeitern. Nicht nur bei Start-ups stösst die Zürcher Initiative auf Interesse: Auch der Oberbürgermeister von London und eine Delegation des Bürgermeisters von Seoul waren schon zu Besuch. Um die Blockchain-Thematik noch stärker in die Öffentlichkeit zu bringen, strebt Trust Square eine intensive Zusammenarbeit mit der lokalen Politik an.
Banken als Zankapfel
Auch mit den Hochschulen wird eng zusammengearbeitet. An der Blockchain geforscht wird an der ETH Zürich, der Universität Zürich, der Universität Basel und der Hochschule für Technik Rapperswil. Speziell zu erwähnen gilt es die Universität Basel, wo im Rahmen der Forschungsstelle «Center for Innovative Finance» seit mehreren Jahren Blockchain-Vorlesungen angeboten werden. Der Fokus liegt auf der Interdisziplinarität von Ökonomie, Informatik und Kryptografie. Mittlerweile wurden die sechs Blockchain-Kurse von knapp 700 Studierenden besucht, 126 Kurszertifikate über die Ethereum-Blockchain wurden ausgestellt.
Doch nicht alles ist eitel Sonnenschein, vor allem bei einem Thema ist man sich uneins: die Rolle der Banken. Einige sehen sie als Spaltpilze, da sie vielen Krypto-Start-ups den Zugang zu einem Bankkonto verweigern würden. Andere halten den Aufschrei für übertrieben: Es gebe genügend Beispiele seriöser Blockchain-Unternehmen, die ohne Probleme zu einem Bankkonto gekommen sind.
Mit fortschreitender Professionalisierung des Blockchain-Sektors dürfte sich diese Debatte demnächst erübrigen. Überhaupt sind Krypto-Start-ups vielleicht schon bald nicht mehr auf traditionelle Banken angewiesen. So hat die Crypto Finance AG als erstes Krypto-Unternehmen von der Finma die Bewilligung erhalten, Krypto-Fonds an qualifizierte Anleger zu vertreiben. Und wer weiss, vielleicht krallt sich schon bald der erste Akteur aus der Krypto-Szene eine Bankenlizenz.