Dieser Artikel ist im Original auf punktmagazin.ch erschienen und ist Teil einer Kooperation.
Kritiker vergleichen die Entwicklung des Bitcoin gerne mit der Tulpenblase. Parallelen gibt es tatsächlich – doch entsprechen sie nicht dem negativen Narrativ der Kritiker. Warum die Tulpenblase keine echte Blase war – und dem Bitcoin-Phänomen dennoch ähnelt.
Dass die etablierte Finanzwelt für den Bitcoin meist wenig übrig hat, ist verständlich. Immerhin sehen ihn viele als des Bankers grössten Alptraum. Um die Kryptowährung zu diskreditieren, ist den Finanzspezialisten, Wirtschaftsgrössen und Währungshütern jedes Mittel recht. Der Vizepräsident der EZB, Vitor Constancio, nannte den Bitcoin «eine Art Tulpe» und zog so den vernichtenden Vergleich zur Tulpenhysterie im 17. Jahrhundert, die heute gemeinhin als Mutter aller Spekulationsblasen gilt. Auch in der Schweiz wurde diese Analogie unlängst hergestellt, um vor dem Bitcoin zu warnen.
Diese Vergleiche haben immer dasselbe Ziel. Sie wollen die gegenwärtige Begeisterung für Bitcoin und Kryptowährungen als das enthüllen, was sie wirklich sei: Irrsinn und Unvernunft. Und dafür eignet sich kein Vergleich so gut jener des Tulpenfiebers. Gierige Spekulanten aller Gesellschaftsschichten haben dazumal im florierenden Holland einen regelrechten Kaufwahn nach Tulpen ausgelöst. Immer mehr Menschen – darunter auch viele Arme – sind durch diesen Wahn angesteckt worden und haben ihr letztes Hemd für eine Tulpe getauscht. Bis zum Punkt, als die Tulpenblase geplatzt ist und viele Menschen und mit ihnen die holländische Wirtschaft in den Ruin gezogen hat. So jedenfalls wird die Geschichte meist erzählt.
Gar nicht so manisch
Doch die Tulpenhysterie ist eher Warnung denn tatsächliches Ereignis. Denn wie die Historiker Anne Goldgar zeigt, war die Tulpenmanie bei Weitem nicht so manisch, wie diese heute dargestellt wird. Für ihr Buch «Tulipmania: Money, Honor, and Knowledge in the Dutch Golden Age» durchforstete die Professorin für neuere europäische Geschichte am Kings College in London zahlreiche Archive. Entgegen der populären Auffassung, so Goldgar, war die Zahl der vom Tulpenfieber erfassten Menschen sehr überschaubar. Vor allem wohlhabende Händler, die durch den internationalen Handel gut verdienten, beschäftigten sich mit dem Kauf und Verkauf von Tulpen. Ebenfalls involviert waren angesehene Handwerker, Bäcker, Gastwirte und Bierbrauer. Wie die Archivbefunde allerdings zeigen, gehörten diese hauptsächlich dem breiten Bürgertum und oberen Mittelstand an. Von Tulpen handelnden Schornsteinfegern – das Inbild der unteren Stände – ist in den Annalen nichts zu lesen.
Übertrieben sind auch die Behauptungen, wonach Tulpen in einer Profitspirale hunderte Male den Besitzer wechselten und so den finanziellen Wahnsinn immer stärker ankurbelten. Wie Anne Goldgar herausfand, umfasste die längste Handelskette gerade mal fünf Personen. Oftmals wechselten Tulpen auch die Hände zu jenem Preis, zu dem sie bereits gekauft worden waren.
Und wie steht es um die Pleiten, die im Zuge der geplatzten Tulpenblase reihenweise auftraten? Nicht eine konnte die Geschichtsprofessorin in den Archivunterlagen finden. Zwar ist von Verlusten und Fehlinvestitionen zu lesen, doch dass sich die Tulpenhändler ruiniert hätten, konnte Goldgar nicht in einem einzigen Fall feststellen. Auch die Wirtschaft Hollands sei bloss spärlich in Mittleidenschaft gezogen worden. Umfassenden Kollaps der Industrie? Fehlanzeige.
Mit ihren Erkenntnissen ist Anne Goldgar nicht allein. Zu einem ähnlichen Schluss kommt der Ökonom Peter Garber. In seiner wissenschaftlichen Arbeit zur Tulpenmanie, die vor allem die Preise und die Marktdynamik analysiert, meint er: «Ein Grossteil der Tulpenhysterie war nicht zwingend Wahnsinn.»
Alles nur Gesichtsklitterung?
Ist die offizielle Geschichtserzählung somit grundfalsch? Gab es überhaupt keine Tulpenblase? In Holland wurden 1635 bis 1637 tatsächlich sehr hohe Preise für gewisse Tulpenarten bezahlt, das bestätigen auch die Recherchen von Goldgar. Teils waren sie so hoch, dass man rückblickend von einer Blase sprechen könnte. Andere Tulpenarten hingegen erfuhren gar keine Preissteigerung, wieder andere stiegen nur moderat im Wert. Und natürlich interessierte sich so mancher kaum für Tulpen, sondern war auf schnellen Gewinn aus. Dass aber nicht alle Tulpenkäufer so dachten, ist im Werk von Anne Goldgar nachzulesen. Obschon der Tulpen Handel von damals heute als irrationale, verrückte Lächerlichkeit abgetan wird, steckte dahinter weitaus mehr.
Mit dem Beginn des 17. Jahrhunderts erlebte Holland, allen voran Hafenstädte wie Amsterdam, Alkmaar oder Middelburg, einen rasanten wirtschaftlichen Aufschwung. Der internationale Handel, der über diese Häfen lief, brachte grossen Wohlstand. Importiert wurden viele neue Produkte und Rohstoffe aus fernen Gegenden wie der Türkei, dem Nahen Osten oder Indien. Eine dieser Neuheiten waren Tulpen. Sie waren nicht nur neu, sondern faszinierten die Holländer mit ihrer Exotik, Schönheit und Vielfältigkeit. Schon fast als magisch galt ihre abwechslungsreiche Mehrfarbigkeit.
Schon bald wurden Tulpen zu einem Kult- und Sammlerobjekt. Als Luxusgut passte sie bestens in eine aufstrebende Gesellschaft, in der die Vermögen und damit die Vorliebe für Kultur im Wachstum begriffen waren. Tulpen wurden entweder als Sammlerstück gekauft oder dienten den zahlreichen Malern – Stillleben waren damals sehr angesagt – als Sujet. Noch heute sind holländische Künstler für Werke aus dieser Epoche weltbekannt.
Bitcoin sind die neuen Tulpen
Tulpen waren somit nicht nur Spekulationsobjekt, sondern zudem Sammlerstück und Kultobjekt. Wer die Tulpenmanie vor diesem Hintergrund sieht, vermag die Tulpenmanie besser einzuordnen. Gleichzeitig lässt sich auch die gegenwärtige Bitcoin-Euphorie besser verstehen. Eine Parallele, die ins Auge springt: Ähnlich wie die Tulpen damals wirkt auch der Bitcoin für viele wie eine magische Wunderwaffe. Ein unverfälschbares Netzwerk, das den digitalen Austausch von Werteinheiten erlaubt und dafür auf keine zentrale Kontrollinstanz angewiesen ist – vielen erscheint das unmöglich, weshalb sie den Bitcoin für eine Mogelpackung halten. Ganz unverständlich ist das nicht: Letztlich verbindet der Bitcoin im Kern vier Komponenten, von denen jede einzelne nicht einfach zu verstehen ist. Dazu kommt, dass diese erst in den letzten 50 Jahren entwickelt wurden. Doch das Gesamtpaket von Hash-Funktion, digitaler Signatur, Peer-to-Peer-Struktur und Open-Source-Entwicklung macht den Bitcoin zu einer Technologie, die das scheinbar Unmögliche möglich macht. Ob Tulpenrausch oder Bitcoin-Hype also: Beide Phänomene sind bei genauerer Betrachtung mehr als blinde Hysterie.
Doch wenn die Tulpenblase nur halb so schlimm war, warum gilt sie in den Geschichtsbüchern als die Mutter aller Blasen? Schuld sind gemäss Anne Goldgar prominente Flug- und Schmähschriften holländischer Calvinisten. Als einflussreiche Sittenwächter ihrer Zeit verurteilten sie die Handelsgeschäfte und Tauschakte mit Tulpen als unmoralisch. Diese Pamphlete wurden später zur Grundlage für Autoren, die über diese Zeit berichteten. Am einflussreichsten war vermutlich Charles Mackay mit seiner Schrift «Extraordinary Popular Delusions and the Madness of Crowds». Die populäre Schrift wurde mit den Jahren zu der Quelle für das Tulpenphänomen und wirkt bis heute nach.
Wird der Aufstieg des Bitcoin künftig ebenfalls einmal durch die kritischen Stimmen und Medienberichte von heute bestimmt sein? Gut möglich – doch dem Bitcoin kann es egal sein, denn immer mehr Menschen prophezeien ihm eine glorreiche Zukunft. Und nimmt man den Vergleich mit den holländischen Tulpen ernst, stehen die Zeichen wirklich nicht schlecht. Holland ist in Sachen Blumen heute globaler Marktführer. 77 Prozent aller Blumenzwiebeln im weltweiten Handel kommen aus Holland – eine Grosszahl davon sind Tulpen.