Vor etwas weniger als einem Jahr lancierten die beiden amerikanischen Handelsbörsen CBOE und CME den Futures-Handel mit Bitcoin. Finanzspekulanten erhofften sich, dass der gegen Ende 2017 gesehene Preisanstieg der Kryptowährung durch die neuen Finanzderivate nochmals einen gewichtigen Schub erhalten und den damaligen Höchstwert von 20 000 Dollar sogar übertreffen könnte. Es ist anders gekommen. Der Bitcoin-Preis stürzte Anfang 2018 ab und leitete einen bis heute anhaltenden Bärenmarkt ein.
Auf der Suche nach einem neuen Katalysator, der den Krypto-Markt wieder beflügeln könnte, setzen Krypto-Spekulanten ihre Hoffnung erneut auf Futures. So soll die IntercontinentalExchange (ICE) am 12. Dezember eine globale Plattform für Krypto-Assets lancieren. Sie soll den Namen Bakkt tragen. Der Entscheid wird aus zweierlei Gründen als signifikant erachtet: Die ICE ist nicht irgendwer, sondern hat mit der New Yorker Handelsbörse unter anderem die weltweit grösste Wertpapierbörse unter sich. Die Reichweite ist enorm.
Gleichzeitig sollen auf der Bakkt-Handelsplattform im Unterschied zu den CBOE- und CME- Finanzprodukten physisch verrechnete Bitcoin-Futures lanciert werden. Das heisst: Während die an CBOE- und CME-Futures beteiligten Parteien ihre gegenseitigen Forderungen und Verpflichtungen in Dollar und nicht in Bitcoin verrechnen, sollen die Abbrechnung von Bakkt-Futures in Bitcion selbst geschehen. Das wiederum bedingt, dass Bitcoin tatsächlich auf dem Markt gekauft und dann durch die Börse effektiv verwahrt werden müssen.
Beginn der Finanzialisierung
Wo der Bitcoin-Preis mit der Einführung physisch verrechneter Futures kurz- oder mittelfristig hingehen wird, dürfte wiederum schwierig zu beurteilen sein. Der Schritt durch die ICE verdeutlicht jedoch: Nach einigen Hedgefonds, Family Offices und Risikokapitalgebern beginnt sich nun auch die Wall Street dem Bitcoin anzunehmen. Deshalb wird heute von der Finanzialisierung des Bitcoin gesprochen.
Neutral gedeutet beschreibt dieser Begriff den Umstand, wonach institutionelle Investoren – Kreditinstitute, Investmentbanken und Fondsgesellschaften – den Handel und die Finanzgeschäfte mit einer Anlage – in diesem Fall Bitcoin – durch die Vermittlung von derivativen Finanzinstrumenten intensivieren. Dies geschieht dadurch, dass auf originale Basiswerte (auch Underlying genannt) die Aktien, Anleihen, Edelmetalle oder eben Bitcoin referenzierende Zusatzfinanzprodukte geschaffen werden.
Eine unmittelbare Folge dieser Finanzialisierung ist die Erhöhung der Marktliquidität des jeweils «finanzialisierten» Basiswertes. Der Markt gewinnt an Markttiefe, weshalb der Basiswert schneller und zu besseren Preisen gehandelt werden kann, da in normalen Zeiten generell mehr Käufer sowie Verkäufer vorhanden sein sollten. Mehr Wall Street für Bitcoin dürfte langfristig also auch weniger Preisvolatilität für die Kryptowährung bedeuten.
Die Kehrseite der Medaille
Die voranschreitende Wall-Streetisierung wird daher von pragmatisch denkenden Bitcoin-Tradern angepriesen – zum Verdruss jener Bitcoin-Aficionados, die befürchten, dass die Finanzialisierung dem Bitcoin nicht nur gut bekommen wird. Denn wiederum neutral betrachtet lässt sich feststellen: Aufgrund der heute gängigen Praktiken an der Wall Street führt die Finanzialisierung eines Basiswertes auch immer zu einer heiklen Aufblähung. Denn Finanzakteure können Vermögenswerte, die sie als Sicherheit für einen vergebenen Kredit erhalten, ihrerseits als Besicherung für die Aufnahme eines Kredits hinterlegen. Über den sogenannten Repo-Markt führt diese Möglichkeit zur Wiederverpfändung (Rehypothecation) zu einer langen Kette (Collateral chain) an immer wieder verpfändeten Vermögenswerten. Mit der Folge, dass unterschiedliche Parteien in ihren Bilanzen einen gültigen Anspruch auf ein und denselben Vermögenswert ausweisen. Hierin besteht dann auch die Aufblähung: Mehrere Parteien glauben, einen Vermögenswert tatsächlich zu besitzen, obschon er nur einmal existiert.
Ihrer Funktionsweise nach schöpfen die Finanzmärkte heute also mehr Ansprüche auf Vermögenswerte, als tatsächlich Vermögenswerte vorhanden sind. In diesem Sinn ist das heutige «Finanzsystem» gewissermassen die Antithese zur Bitcoin-Blockchain. Diese kennt eine absolute Knappheit und ist mathematisch so programmiert, dass ungedeckte Ansprüche auf Bitcoin oder einen Bruchteil davon innerhalb des Bitcoin-Netzwerkes nicht möglich sind. Je stärker Bitcoin- und der Krypto-Handel jedoch durch die Wall Street professionalisiert werden, desto grösser sind die Chancen, dass der Bitcoin an der Wall Street als Besicherung verwendet wird und somit off-chain, das heisst, ausserhalb der Bitcoin-Blockchain, ungedeckte Bitcoin-Ansprüche entstehen, welche dann kontinuierlich wachsen dürften. Die algorithmisch erzwungene, absolute Knappheit des Bitcoins würde dadurch untergraben.
Für das eigentliche Anliegen des Bitcoins, eine absolut knappe und antizyklische Anlage zu sein, wäre das wenig förderlich. Doch der Wall Street dürfte das herzlich egal sein, solange sich mit dem Bitcoin ordentlich Geld verdienen lässt. Allerdings birgt die Finanzialisierung der Kryptowährung auch für sie eine potentielle Gefahr: In «normalen» Zeiten dürfte die künstliche Aufblähung der Bitcoin-Derivate und deren Integrierung in das Finanzgeschäft kein Problem darstellen. Kommt es jedoch zu einer Krise, bei der alle Beteiligten ihre Ansprüche auf reale Bitcoin-Basiswerte geltend machen, werden sie merken, dass zu wenig originale Bitcoin-Einheiten vorhanden sind. Da die Bitcoin-Blockchain keine künstliche Schaffung neuer Bitcoin erlaubt und eingefleischte Bitcoin-Inhaber ihre Krypto-Assets kaum hergeben würden, könnten Finanzakteure Schwierigkeiten haben, an Bitcoin-Einheiten zu gelangen – oder halt eben nur zu hohen Preisen.