Täglich kommen neue Fakten zum FTX/Alameda-Debakel ans Licht. Was laut dem Ex-CEO Sam Bankman-Fried lediglich das Resultat einer unglücklichen "Fehlkalkulation von Risiken und Hebelwirkung" war, scheint in Realität betrügerische Hintergründe zu haben. Ein Blick in die jüngsten Gerichtsdokumente.
Die Enthüllung eines 10 Mrd. tiefen Bilanzlochs und die subsequente Insolvenzanmeldung der ehemals zweitgrössten Kryptobörse FTX erschüttert nach wie vor die gesamte Branche. Wie Entdeckungen des neuen CEOs und Leiter des Chapter 11 Insolvenzverfahrens, John Ray, enthüllen, verbirgt sich hinter dem Debakel eine Reihe von fragwürdigen bis hin zu kriminellen Geschäftspraktiken. Kontext zur gesamten Situation findet sich im fortlaufend aktualisierten FTX Dossier.
Völliges Versagen jeglicher Firmenkontrollen
Die neusten Entdeckungen sind Teil der persönlichen Erklärung des neuen FTX-CEOs im Insolvenzgericht des US-amerikanischen Staates Delaware. Der Anwalt und Insolvenzprofi half bei der Bewältigung der Folgen einiger der grössten Firmenzusammenbrüche in der Geschichte, einschliesslich des Untergangs des Energiehandelsunternehmens Enron nach einem Bilanzbetrugsskandal im Jahr 2001. Doch selbst er äusserte sich schockiert über die Begebnisse im Fall FTX - und das bereits im vierten Abschnitt seiner 26-seitigen Gerichtsaussage.
"Noch nie in meiner beruflichen Laufbahn habe ich ein so umfassendes Versagen der Unternehmenskontrollen und ein so vollständiges Fehlen vertrauenswürdiger Finanzinformationen gesehen wie hier. Von kompromittierter Systemintegrität und mangelhafter behördlicher Aufsicht im Ausland bis hin zur Konzentration der Kontrolle in den Händen einer sehr kleinen Gruppe unerfahrener, unbedarfter und potenziell kompromittierter Personen - diese Situation ist präzedenzlos." - John J. Ray, FTX-CEO und Leiter des Insolvenzverfahrens in Delaware
Wie sich über die restlichen Seiten des Dokuments herausstellt, umfasst diese Aussage unzählige Bereiche der Unternehmensführung. Von selbstlöschenden Nachrichten bei kritischen Entscheidungen über das komplette Fehlen einer Buchhaltung bis hin zur persönlichen Bereicherung der ehemaligen FTX-Führungskräfte. Und das alles ohne Stirnrunzeln bei den zuständigen Regulatoren oder Investoren des damals 32 Mrd. USD schweren Unternehmens.
Ein verflechtetes Konstrukt
Der vor einer Woche eingereichte Insolvenzantrag umfasst ein Gebilde von über 130 Unternehmen ("The FTX Group"), die sich über dutzende Länder verteilten und primär Sam Bankman-Fried (in Kryptokreisen SBF genannt) unterstellt waren. Da die überwältigende Mehrheit dieser Firmen keine testierten Bilanzen führten, beschäftigt sich das von Ray geleitete Rechtsteam seit einer Woche mit der Konsolidierung aller Vermögenswerte und Verbindlichkeiten. Keine leichte Unternehmung, schliesslich führte die FTX Gruppe laut dem Insolvenzprofi kein zentralisiertes Liquiditätsmanagement. Somit ist bis auf Weiteres unklar, wie gross der Schaden tatsächlich ist. Auch die Audits für zwei der Tochterfirmen stellt Ray in Frage.
"Zu den Verfahrensmängeln bei der Mittelverwaltung gehörten das Fehlen einer genauen Liste der Bankkonten und der Kontobevollmächtigten sowie die unzureichende Beachtung der Kreditwürdigkeit von Bankpartnern in aller Welt. [...] Ich habe erhebliche Bedenken hinsichtlich der in diesen geprüften Jahresabschlüssen enthaltenen Informationen, insbesondere in Bezug auf das Dotcom-Silo. Ich halte es nicht für angemessen, dass sich die Beteiligten oder das Gericht auf die geprüften Jahresabschlüsse als zuverlässigen Hinweis auf die finanziellen Verhältnisse dieser Silos verlassen." - John J. Ray, FTX-CEO und Leiter des Insolvenzverfahrens in Delaware
In ähnlichem Zuge wurden Gehaltszahlungen nicht wie für milliardenschwere Unternehmen üblich ausbezahlt. Statt einer zentralen Abwicklung stellten Angestellte ihre Anträge auf Lohn über einen Online-Chat. Diese wurden dann von Vorgesetzten mit personalisierten Emoji-Reaktionen genehmigt. Ausserdem seien in diversen Transaktionen Grundstücke und Gegenstände für Mitarbeiter gekauft worden - das alles mit Firmengeldern und ohne aufzufindende Dokumentation. Die internen Listen der FTX Gruppe seien so mangelhaft, dass Rays Team bisher nicht einmal in der Lage war, eine vollständige Liste von Angestellten zu finden. Das Aufspüren bestimmter mutmasslicher Mitarbeiter sei trotz wiederholter Versuche erfolglos geblieben.
Vermischung der Gelder von Alameda und FTX
Doch am fatalsten sind die Geschäftspraktiken im Bezug auf die Krypto-Verwahrung. Laut dem neuen CEO hatten Sam Bankman-Fried und sein Mitgründer Gary Wang die vollständige Kontrolle über die digitalen Assets der Hauptgeschäfte der FTX Gruppe. Der Zugang zu Private Keys und sensitiven Daten sei über ein "ungesichertes Gruppen-E-Mail-Konto" geregelt worden. Ausserdem sei Software zur Verschleierung des Missbrauchs von Kundengeldern genutzt worden, welche Transaktionen zwischen der Krypto-Börse FTX und dem Handelshaus Alameda Research vor Wirtschaftsprüfern verstecken konnte. Darüber hinaus wurde Alameda von einigen Aspekten des Autoliquidationsprotokolls der Börse ausgeschlossen.
Weiter bestätigt Ray die Vermutung, dass die Geschäfte der eigentlich separaten Entitäten FTX und Alameda Research kaum voneinander getrennt wurden. Fast keine der 130 untergeordneten Firmen hielten Vorstandssitzungen, und die Governance-Struktur wurde primär von SBF gesteuert (inkl. die von Alameda Research). Dies wirft nicht zuletzt auch die Frage auf, ob die insgesamt 3.3 Mrd. USD in Alameda-Darlehen an Bankman-Fried aus der Tasche von FTX-Kunden finanziert wurde. Schliesslich sei die Anzahl der von Nutzern hinterlegten Kryptowährungen für einige der Tochterfirmen - inklusive der unter US-amerikanischem Recht regulierten "FTX US" Börse - in keinem Finanzbericht auffindbar.