In Anlehnung an den Black Friday von 1929 ging auch der 15. September 2008 als schwarzer Tag in die Wirtschaftsgeschichte ein. Mit dem Konkurs der Investmentbank Lehman Brothers erreichte die Finanzkrise ihren Höhepunkt – Tausende Angestellte hatten ihren Arbeitsplatz vom einen Tag auf den anderen zu räumen.
Die Geschäftstätigkeit der Banken untereinander kam faktisch zum Erliegen. Die realwirtschaftliche Rezession setzte ein. Ein Jahr nach dem Zusammenbruch von Lehman Brothers tat die Commerzbank, was eigentlich unmöglich ist: Sie schätzte die Kosten der weltweiten Finanz- und Wirtschaftskrise. Resultat: 10,5 Billionen Dollar. Der Schock sass tief, die politische Verzweiflung war global spürbar. Erst recht, als sich auch die als Hoffnungsträger angepriesenen Staaten mit ihren Rettungsaktionen ins finanzielle Elend stürzten. Die Sehnsucht nach einem Erlöser war gross.
31. Oktober 2008. Etwas mehr als einen Monat nach Krisenhöhepunkt erhalten einige hundert Mitglieder einer obskuren Mailliste von Kryptografie-Experten die Nachricht eines gewissen Satoshi Nakamoto. «Seit geraumer Zeit arbeite ich an einem elektronischen Zahlungssystem, das peer-to-peer ist und keiner vertrauenswürdigen Drittpartei bedarf», schreibt der unbekannte Nakamoto. In seiner E-Mail findet sich ein Link zu einem Grundlagenpapier. Die neunseitige Schrift beschreibt ein Zahlungssystem namens Bitcoin.
Den adressierten Kryptografie-Freaks war die Idee einer Kryptowährung keinesfalls neu. Schon in den 1990er-Jahren gab es derartige Ansätze, doch waren sie allesamt gescheitert. Wenig überraschend also, dass auch Bitcoin erstmal auf wenig Euphorie stiess. Warum sollte ausgerechnet dieses System grundlegend besser sein als die anderen?
Göttlich geplantes Timing
Dessen muss sich Satoshi Nakamoto bewusst gewesen sein – weshalb er mit ein paar spezifischen Merkmalen aufwartete: Bitcoin, so erklärte der unbekannte Schreiber, basiere auf einer Blockchain, einer über unzählige Rechner gestreuten Datenbank. Diese verhindere, dass Transaktionen doppelt ausgeführt werden könnten. Dem fügte er sein ultimatives Verkaufsargument bei: Die Technologie sei komplett dezentralisiert – ohne zentralen Server oder Autorität, die das System kontrolliere. Stattdessen verfügt sie über Anreize, die dafür sorgen, dass die Blockchain durch deren Nutzer aufrechterhalten würde.
Von Satoshi Nakamoto hatte bislang noch nie jemand gehört. Aus dem Nichts tauchte der mutmassliche Japaner eines Tages auf und kündigte Grosses an. Keiner wusste, wer sich hinter diesem Pseudonym verbarg. Nakamoto verwendete zumindest drei E-Mail-Adressen, doch die waren derart aufwendig verschlüsselt, dass die Identifizierung der dahinterstehenden Person faktisch unmöglich war. Noch heute ist die wahre Identität Nakamotos nicht zweifelsfrei geklärt.
Sein plötzliches Erscheinen hätte die ominöse Figur angesichts der Finanzkrise 2008 kaum besser timen können. Geld regiert die Welt, doch wer regiert das Geld? Es war eine jener Fragen, die im Zuge der Ereignisse wieder in den Vordergrund trat. Nakamotos Antwort in seinem Whitepaper: die Zentral- und Geschäftsbanken dieser Welt. Es sind diese Horte der Macht, die über das Leben und teils Überleben der Menschen entscheiden. Am Höhepunkt der Finanzkrise also, der uns unser wehrloses Ausgeliefertsein schonungslos aufzeigte, betrat Satoshi Nakamoto mit seinem Heilsplan die virtuelle Bühne: Bitcoin sollte die Welt und ihre Menschen aus den Fängen der Zentralisierung befreien.
Denn seit Menschengedenken basieren Gesellschaften auf Vertrauen. Um Vertrauen ab einer bestimmten Gesellschaftsgrösse garantieren zu können, waren Menschen stets auf eine zentral organisierte Autorität angewiesen. Mit der bedauernswerten Konsequenz, dass es gerade diese für unabhängig gehaltene Zentraleinheit war, welche das Vertrauen nicht selten ausnützte.
Was zu Anfangszeiten des Bitcoin wohl keinem der involvierten Programmierer bewusst war, sollte vielen Jahre später selbstverständlich erscheinen. Bitcoin ist nicht bloss ein alternatives Zahlungssystem, sondern gewissermassen die Errettung aus jahrhundertealter Tyrannei. So wie das Christentum den Menschen von Natur aus als Sklaven der Sünde sieht, erkennen Anhänger von Bitcoin im Menschen einen Sklaven zentralistischer Machtstrukturen. Für die einen liegt die Erlösung in der Gnade Gottes, für die anderen in der Dezentralisierung.
Meriöser Schöpfungsakt
Nicht nur den Zeitpunkt hat Satoshi Nakamoto bestens gewählt, auch die Inszenierung scheint perfekt. Dass niemand weiss, wer hinter diesem Decknamen steckt, macht die Sache mysteriös. Es verleiht Bitcoin seinen eigenen Schöpfungsmythos und widerspiegelt Bitcoins Schlüsselanliegen: Anonymität und Dezentralität. Dass selbst der Gründer unbekannt ist und keine zentrale Machtposition innehat, unterstreicht das Wertversprechen der virtuellen Währung.
Nur wenige haben je mit Satoshi Nakamoto via Internet «persönlich» kommuniziert, so wie auch nur wenige Propheten direkten Draht zu ihrem Gott hatten. Am 12. Dezember 2010 richtete Nakamoto seine letzte Nachricht an die Community. Er ging ohne eine Abschiedsnachricht, ohne eine letzte glorreiche Abschlussrede. Nakamoto hörte einfach auf zu schreiben.
Vom Rückzug ausgenommen war anfänglich eine kleine Gruppe von Kernprogrammierern. Ähnlich wie Jesus seine von ihm auserlesenen Jünger lehrte, informierte Nakamoto seine Core Developer über weitere Entwicklungsschritte. Im April 2011 schickte er auch seinen Jüngern die letzte Nachricht. Genauso geheimnisvoll wie Nakamoto auf der Bühne erschien, verschwand er drei Jahre später wieder. Für Bitcoin-Anhänger ist er nicht nur das einsiedlerische Computergenie hinter Bitcoin, sondern die Personifizierung einer höheren Macht, die ihre aktive Rolle niederlegte und nun als gottähnliche Gestalt in unseren Köpfen weiterlebt. «Im Anfang schuf Gott Himmel und Erde», steht in der Genesis. Und Nakamoto schuf am Anfang den ersten Block an Bitcoins, den Genesis-Block. Die Parallelen zur Schöpfungsgeschichte der Bibel sind nicht zu übersehen.
«Machet die Welt zu Jüngern»
Mittlerweile ist die Bitcoin-Gemeinde stark angewachsen, bezüglich Symbolik steht sie religiösen Glaubensgemeinschaften in nichts nach. Die Christen haben ihr Kreuz, die Moslems den Halbmond, die Bitcoin-Jünger den Token, das Bitcoin-Logo. Selbst Musik wird zu Ehren des Bitcoin komponiert. Es sind – wenig überraschend – lobpreisende Lieder. Der offizielle Bitcoin-Song «Ode to Satoshi» etwa beschreibt, wie Bitcoin dereinst die Welt regieren wird. Andere Musiktitel werden christlichen Anbetungsliedern nachempfunden: «10 000 Bitcoins» heisst ein Stück und erinnert dabei stark an «10 000 Reasons (Bless the Lord)» von Matt Redman. Selbstverständlich darf auch ein auf Bitcoin und dessen Begründer abgeändertes «Vaterunser» nicht fehlen. Darin heisst es beispielsweise: «Und führe uns nicht in Altcoins (andere Kryptowährungen), sondern erlöse uns von Ripple (eine Blockchain für das etablierte Bankensystem). Bitcoin ist eben nicht bloss Zahlungsmittel, sondern auch Religion – niemand schreibt Lieder und Gebete über Visa oder Mastercard.
Dass es so weit kommen konnte, ist den Core Developern zu verdanken. Diese Handvoll Programmierer war es, die andere Informatiker sowie Unternehmer und Investoren bekehrte, welche wiederum selber die frohe Botschaft verkündeten. Innerhalb der Gemeinschaft spricht man denn auch oft von der Bekehrung Ungläubiger durch Bitcoin-Evangelisten. Gewonnen werden die neuen Jünger an zahlreichen Bitcoin-Meetups, die, wie sollte es anders sein, nicht selten an Orten abgehalten werden, die Satoshi Square getauft wurden. Schilderungen zufolge hatte manch interessierter Neubesucher schon ein erleuchtendes Glaubenserlebnis, nachdem ihm die Wahrheit von Bitcoin gepredigt worden war.
Die enge Pforte und der schmale Weg
Bitcoin hat vor allem jene in seinen Bann gezogen, die den Moment der Erlösung sehnlichst erwartet haben. Auch vor der Geburt Christi hofften unterdrückte Juden auf eine Befreiung von den Römern. Mit der Geburt Jesu glaubten viele an die Wende. Umso grösser war die Enttäuschung, als der Messias mit den bestehenden Herrschaftsstrukturen nicht aufräumte. Ähnlich Ernüchterndes könnte auch der Bitcoin-Community bevorstehen, denn inzwischen haben sich Zentral- und Geschäftsbanken sowie Grossunternehmen im grossen Stil auf die Blockchain eingeschossen. Es scheint realistisch, dass sich die Technologie von Bitcoin in vielen Bereichen durchsetzt – vermutlich aber durch die mächtigen Player in die von ihnen gewünschten Bahnen gelenkt. Dass Bitcoin sämtliche zentralistischen Institutionen obsolet werden lässt, scheint zumindest in nächster Zeit ausgeschlossen.
Wird Bitcoin je Mainstream werden? Es ist nicht davon auszugehen. Zu stark ist der Gegenwind jener anderen Religion, deren Gott die zentralistisch organisierte Papiergeldwährung ist. Das kann man als Misserfolg sehen – aber vielleicht muss es ja genauso sein. Denn gerade aufgrund der zahlreichen religiösen Wesenszüge, die einen schöpferischen Idealismus nähren, hat Bitcoin das Zeug, auch ausserhalb des Systems für seine Gläubigen sinnerfüllte Alternative zu sein.