Vor etwas über einem Jahr sorgte nicht nur der Glühwein für Wärmegefühle, auch Bitcoin und weitere Krypto-Assets erwärmten so manchem Anleger das Herz. Kurz vor Weihnachten überschritt der Bitcoin-Preis sogar die magische Marke von 20 000 Dollar.
Ein Jahr später sind es die Kritiker, die sich die Hände reiben – aber nicht, um sich aufzuwärmen. Für sie sind die implodierten Preise die Bestätigung, dass hinter Bitcoin und Co. doch keine Substanz stecke. Der Bitcoin-Preis beträgt derzeit ein Fünftel des letztjährigen Hochs – immer noch zu viel, finden manche Kritiker. So auch Paul Donovan, Global Chief Economist der UBS. In einem Schreiben äussert sich der Ökonom zum Preisverfall und lehnt seine Worte an den genialen Schriftsteller Shakespeare an: «Begraben will ich Bitcoin, nicht ihn preisen.» Doch ist es wirklich an der Zeit, den Grabstein anzufertigen?
Wo hängt es denn?
Dass die hohen Preise von 2017 eine Korrektur erfuhren, lässt sich im Nachhinein leicht rationalisieren. Auch die kolportierte Hoffnung, wonach eine Welle institutioneller Gelder den Preisverfall aufhalten würde, dürfte retrospektiv als etwas zu naiv taxiert werden. Für institutionelle Anleger werden die Einstiegsmöglichkeiten erst geschaffen. Und auch die Research- und Trading-Desks, die Banken für Krypto-Assets unterhalten, befinden sich noch im Anfangsstadium. Die Aufbewahrungslösungen bedürfen noch einiger Klärungsarbeit. Kein institutioneller Anleger möchte Krypto-Assets im Wert mehrerer Millionen Dollar auf einem Hardware-Wallet eines Mitarbeiters gelagert wissen. Damit zusammenhängend wird eine Anpassung des Bucheffektengesetzes sowie des Bundesgesetzes über Schuldbetreibung und Konkurs (SchKG) auf das neue Krypto-Phänomen gefordert. Begründet Bitcoin Eigentum? Fallen Krypto-Assets in die Konkursmasse? Solche Fragen sind noch zu regeln. Ebenfalls geklärt werden müssen Versicherungsfragen im Zusammenhang mit Verlust von oder Hacker-Angriffen auf Krypto-Assets.
Abgesehen von den technischen, infrastrukturellen und regulatorischen Hindernissen dürften heute viele institutionelle Akteure auch dann nicht investieren, wenn sie es könnten. Die hohe Volatilität der Krypto-Assets verträgt sich kaum mit deren Investment-Herangehensweise. Preisschwankungen von bis zu 25 Prozent innerhalb weniger Tage – bei Bitcoin und Krypto-Assets noch immer keine Seltenheit – sind für institutionelle Investoren der Alptraum. Doch noch ist nicht aller Tage Abend. Dass die Blockchain-Technologie eine Zukunft haben dürfte, darüber scheint es einen breiten Konsens zu geben. Was aber geschieht mit Kryptowährungen, was mit Bitcoin?
Einfach anders
Niemand weiss es. Doch bevor man Bitcoin als Napster oder MySpace der Blockchain-Welt abtut, sollte man sich doch etwas ausführlicher mit seinem Wesen, Kontext und seiner Vision beschäftigen. Weil die Kryptowährung ehemals sakrosankte Überzeugungen sowie Handlungsweisen infrage stellt und ihre Verfechter die Welt fundamental anders denken, elektrisiert das Phänomen in Medien, akademischen Kreisen und Stammtischrunden. Es ist diese unorthodoxe Essenz des Bitcoins, die viele andere Blockchain-Projekte bewusst abzulegen versuchen und die für anhaltende Anfeindungen und Untergangsbeschwörungen sorgt.
Bitcoin hat den Versuch losgetreten, die Welt dezentral zu gestalten. Im Zentrum steht die Idee, etwas zu minimieren, das für jede wirtschaftliche Transaktion nötig ist: Vertrauen. Eine dezentralisierte Struktur kombiniert mit krypto-ökonomisch ausbalancierten Anreizsystemen ermöglicht Interaktionen zwischen fremden Menschen, ohne dabei von einzelnen zentralisierten Einheiten abhängig sein zu müssen. Dass ein solcher Versuch niemals perfekt dezentralisiert und ohne jegliche Vertrauensgrundlage auskommen kann, dürfte einleuchten. Im Kern baut der Bitcoin auf Mathematik und Kryptografie.
In den ersten zehn Lebensjahren haben diese trotz zahlreicher Angriffsversuche in ihrer Logik und Stringenz gehalten. Dort, wo ein Restvertrauen in Menschen nötig ist, bei der Software- und Hardware-Entwicklung oder dem Mining, sorgen spieltheoretische Anreizstrukturen für diszipliniertes Verhalten. Selbst wenn das Bitcoin-Netzwerk also nicht auf allen Ebenen zu hundert Prozent dezentralisiert ist, so dürfte es noch immer das dezentralisierteste aller weltumspannenden Netzwerke sein.
Asymmetrische Wette?
Warum ist der Versuch, eine dezentralisierte Welt zu schaffen, überhaupt von Bedeutung? Aus einem einfachen, aber überzeugenden Grund: Sie bietet eine Alternative zum bisher Bekannten, neue Angebote und Geschäftsmodelle, Wahlmöglichkeiten, Chancen und Auswege. In unserer komplexen, unfairen und ungewissen Welt werden Staaten, Unternehmen und Individuen immer ein Interesse haben, in eine Welt mit diesen Eigenschaften eintauchen zu wollen.
Hört man sich in der Bitcoin-Community um, so ist klar: Der Auf- und Ausbau dieser neuen dezentralen Welt dürfte noch zehn bis fünfzehn Jahre dauern. Wie die Dinge in voller Blüte einmal aussehen werden, kann nur erahnt werden. Bitcoin ist ein Basis-Protokoll und heute wohl am ehesten mit einem globalen Abrechnungssystem zu vergleichen. Darauf aufbauend sind viele weitere Innovationen angedacht, wovon einige – etwa das Lightning-Network – bereits eingeleitet worden sind. Ebenfalls vorgesehen sind sogenannte Sidechains wie Liquid, die das Basis-Protokoll in gewissen Funktionen unterstützen sollen. Da Bitcoin ein Internet-Protokoll ist, sind letztlich unbegrenzt viele damit zusammenhängende Zusatzprotokolle denkbar. Wenn das Bitcoin-Basis-Protokoll mit Visa verglichen und aufgrund der geringeren Anzahl verarbeiteter Transaktionen pro Sekunde getadelt wird, werden Äpfel mit Birnen verglichen. Erst ein zukünftiges Zusatzprotokoll, welches das Basis-Protokoll als Vertrauensanker verwendet, macht einen zuverlässigen Vergleich möglich.
Folgende Fragen müsse daher erlaubt sein: Was, wenn wir heute tatsächlich erst am Anfang einer ganz neuen Entwicklung stehen? Was, wenn mit Bitcoin tatsächlich ein neues Finanzsystem gebaut werden kann? Was, wenn Krypto tatsächlich zu einer riesigen Umverteilung der Geldwerte von den kurzsichtigen Ungeduldigen zu den geduldigen Langzeitdenkern führt?