Eine Nachricht dominierte die Twitter-Feeds der letzten Tage: die Libra-Tragödie. Im Cyberspace wird gerade das Ende von Facebooks Kryptowährung besungen. Mit dem Ausstieg von Visa, Mastercard, Stripe und Visa sehen viele das Projekt bereits beerdigt, bevor es überhaupt offiziell begonnen hat.
In öffentlichen Schreiben wurden die genannten Unternehmen dazu aufgefordert, dem Libra-Projekt den Rücken zu kehren. In einer Mischung aus Entrüstung und Schadenfreude weisen insbesondere Bitcoiner auf die Tatsache hin, wonach die Mutter aller Kryptowährung über keine Adresse verfüge, an die man einen derartigen Drohbrief schicken könne. Bitcoin sei eben tatsächlich nonzentral, die Angriffsfläche sei von seinem Gründer Satoshi Nakamoto aus guten Gründen auf das Kleinstmögliche reduziert worden.
Bei Libra dagegen gibt es genügend Anknüpfungspunkte, weshalb von verschiedenen Seiten angezweifelt wird, ob es sich dabei überhaupt um eine Kryptowährung handelt. Dass Facebook seinen Libra-Token gleichwohl aus Blockchain-basiertes Unterfangen angekündigt hat, und gleichzeitig mit für Kryptoassets typischen Begriffen wie Nodes, Stablecoin oder erlaubsnisfrei für ihr Projekt wirbt, hat paradoxerweise keinen technischen Hintergrund. Wie Tencent mit Wechat in China bereits eindrücklich gezeigt hat, ist digitales Zahlen von Peer-to-Peer ganz einfach ohne Blockchain und Kryptowährung möglich.
Regulierungsnische ausnutzen
Der Grund, weshalb Facebook Libra als Kryptowährung vermarktet, ist regulatorischer Natur. Noch ist der Kryptosektor ein verhältnismässig unklar regulierter Bereich – aufgrund seiner globalen Reichweite und digitalen Wesensart dürfte das in absehbarer Zeit auch noch so bleiben. Für Facebook schien von Anfang klar gewesen zu sein: Will es mit Libra eine Chance auf Erfolg haben, dann nur wenn es die Vorteile der heutigen Kryptowelt ausnützen kann. So dürfte man sich beispielsweise überlegt haben, die schier unüberwindbaren KYC- und AML-Erfordernisse, die ein Projekt dieser Grösse mit sich bringt, an die Kryptohandelsbörsen und damit an Dritte auszulagern. Eine Strategie, die so nur in der neuen Welt der Blockchain denkbar ist.
Eine solche Dreistigkeit will und kann die US-Politkaste nicht erdulden. Dementsprechend unwirsch waren und sind die Reaktionen US-amerikanischer Politiker. Mit welcher Arroganz und Herrschsucht sie jedoch ihrerseits über das Libra-Projekt herziehen, mutet bisweilen grotesk an. Werden die Bürokraten, Technokraten und Funktionäre die Libra-Privatwährung also schon bald als kurzweilige Fantasterei gebodigt haben?
Was ihnen heute noch als Schnapsidee erscheint, dürften sie in naher Zukunft als unverhoffte Segensgabe entdecken. Zumal Libra seinen Token möglichst preisstabil halten will, bedarf es dazu eines Reservefonds. Als Anleihenfonds soll dieser aus Staatsobligationen verschiedenster Industrienationen bestehen. Im Stil einer privaten Zentralbank würde eine Gruppe Verantwortlicher den Reservefonds verwalten, um damit die Preisstabilität des Libra-Tokens sicherzustellen. Steigt die Nachfrage nach Libra, sollen neue Libra-Token geschaffen und damit der Reservefonds mit neuen Staatspapieren angereichert werden. Das führt zu einer Abschwächung des Aufwertungsdrucks auf Libra. Gerade umgekehrt sollen die Verantwortlichen agieren, wenn es den Libra-Kurs zu stützen gilt. Wertpapiere aus dem Anleihenfonds sollen verkauft werden, um Libra-Token zu kaufen, was wiederum stabilisierend auf den Token wirkt.
Konkret sollen die Wertpapiere, abgesehen von erforderlichen Bargeldreserven, zur Hälfte aus kurzfristigen US-Staatsanleihen bestehen. Der Rest soll auf Staatsanleihen in Euro, Yen, Pfund und Singapur-Dollar entfallen.
Geopolitische Waffe
Eine Nachfrage nach Libra ist somit letztlich vor allem auch eine Nachfrage nach US-amerikanischen Staatsanleihen. Als solche kann ersteres US-Politikern nicht wirklich widerstreben, immerhin hat es Libra auf ein Kollektiv von Menschen abgesehen, die heute kaum in US-Schuldpapieren investiert sein dürften: Bevölkerungsschichten, die keinen Zugang zu Kreditinstituten und Vermögensverwalter haben. Werden diese sogenannten «Unbanked» einen Teil ihrer Ersparnisse in Libra-Token halten können, wird ihnen dadurch nicht nur die Tür zur Partizipation an einem globalen Wirtschaftsleben geöffnet. Indirekt werden sie damit auch Teil der internationalen Finanzwelt, indem ihre Ersparnisse in Schuldpapiere kanalisiert werden. Nicht unwahrscheinlich, dass der US-Staat von einer solchen Dynamik am meisten profitieren könnte.
Libra als geopolitisches Werkzeug der USA also? Die Vermutung liegt nahe, dass wir das US-Establishment in absehbarer Zeit einen richtungswechselnden Meinungsschwenker werden machen sehen. Denn die Politisierung der Finanzmärkte schreitet voran. Unterschiedliche subtile Mittel werden bemüht, die internationalen Kapitalströme in die richtigen, die eigenen, Bahnen zu lenken. Beispielsweise hat die Europäische Union Regulierungen erlassen, die den Kauf von in den USA domizilierten Fonds, sogenannte Exchange Traded Funds (ETF), für europäische Investoren erschwert oder gar verbietet. Wer mit europäischen Vermögensverwaltern spricht, erfährt schnell, dass der Erwerb von in US-Dollar denominierten Wertschriften immer schwieriger wird.
Solche Tendenzen dürften die USA nicht kalt lassen. Im Sinne eines geopolitischen Druckmittels würde sich das Libra-Projekt daher gut eignen. Ist Libra erst einmal lanciert und aufgrund der hohen WhatsApp-Dichte auf dem alten Kontinent Europa stark verbreitet, bliebe der Europäische Union wohl nur noch die Option, gegen Libra Position zu beziehen. Einmal mehr könnten die USA Europa dann einen Innovationsfeind schimpfen, der sich mit seiner Abwehrhaltung selbst ins Abseits manövriert.
Noch scheinen die USA diese gerissene Strategie nicht erkannt zu haben. Vielleicht aber steckt diese Idee doch schon in den Köpfen schlauer US-Abgeordneter, die mit ihren Tiraden gegen das derzeitige Libra nur dafür sorgen möchten, dass die Gewichtung der USA, allen voran deren Staatsanleihen beim Reservefonds, im Libra-Projekt noch grösser ausfallen wird. Libra wird kommen.